Vortrag anlässlich der Gedenkveranstaltung am 2. Oktober 2021, von Joachim Scholz
Ein seltener und auch etwas seltsamer Anlass führt uns heute auf den Paulinenauer Friedhof. Der Friedhof hat sozusagen Geburtstag. 100 Jahre Friedhof: Wie begeht man so einen Anlass? Soll man ihn überhaupt begehen? Ich bin froh, dass unser Pfarrer Michael Jurk, als ich ihm die Frage stellte und den Vorschlag zu dieser Veranstaltung machte, sofort dabei war, dieses Datum hier feierlich zu begehen. Begehen im wahrsten Sinne des Wortes, denn im Anschluss werden wir über den Friedhof gehen und an einigen besonderen Gräbern Halt machen. Wir wollen den Friedhof heute als ein Denkmal behandeln und einmal fragen: Wie ist seine Geschichte, was erzählen seine Gräber? Ich hatte vor, Ihnen in meinem kleinen Einleitungsvortrag einige Geschichten aus den 100 Jahren zu erzählen, in denen der Paulinenauer Friedhof besteht. Es wäre eine schöne Gelegenheit, dachte ich, dabei an einige besondere Paulinenauer/innen zu erinnern. Aber ich habe festgestellt, dass die eingeplante Zeit schon fast ausgeschöpft war, ohne dass ich in meiner Erzählung weit über das Eröffnungsdatum des Friedhofs hinausgekommen wäre. Es sind einfach zu viele Geschichten. Deshalb konzentriere ich mich im Folgenden auf die Zeit vor 100 Jahren und auf die Frage, wie es damals zur Anlegung des Paulinenauer Friedhofs kam. Danach ein kurzer Ausblick und dann gehen wir über den Friedhof und machen Halt an einigen wichtigen Gräbern.
Paulinenaue gibt es als ,Paulinenaue‘ seit 1833. Davor war es eine unbedeutende Meierei. Wenn so ein Dorf neu entsteht, dann braucht es nicht lange, bis auch ein Friedhof benötigt wird. In Paulinenaue dauerte es etwa eine Generation, bis das Friedhofs-Problem zum ersten Mal aktenkundig wurde. Das war gegen Ende der 1860er-Jahre. Damals hatte sich die Eisenbahn schon im Ort etabliert. Für die Armenvorsorge war aber der (Pessiner) Gutsherr Curt von Knoblauch zuständig. Ihn störte die Vorstellung, dass er vielleicht auch einmal für Bahnerfamilien würde aufkommen müssen, wenn die in Geldschwierigkeiten kämen. 13 Bahnerfamilien gab es damals immerhin schon. Curt von Knoblauch wollte also, dass sich die Eisenbahn an den kommunalen Pflichten beteiligt und machte der Bahn folgendes Angebot:
Für den Fall, dass die Bahn die Verantwortung für die eigenen Beamten übernimmt, „werde er einen Begräbnißplatz für die sämmtlichen Einwohner von Paulinenaue unentgeltlich hergeben und einrichten, entgegengesetzten Falles könne er sich nicht hierzu verstehen“ und er würde sogar in Zukunft alle weiteren Bauvorhaben der Bahn in Paulinenaue blockieren, so Curt von Knoblauch. – Die Bahn lehnte ab.
Viele Bahnbauten entstanden in der Folgezeit in Paulinenaue, aber auf einen eigenen Friedhof mussten die Paulinenauer noch mehr als fünfzig Jahre warten. Ihre Toten begruben sie im Nachbardorf Selbelang. Noch heute findet man hier in einem abgetrennten, sehr romantischen Teil des Friedhofs alte Grabstätten und dort gibt es auch Gräber von Paulinenauern. Ein Stein ist ein echtes Paulinenauer Denkmal. Es handelt sich um die Ruhestätte der 1918 im Alter von 26 Jahren gestorbene Minna Käding, eine geborene Boddin. Die Familie kennt man in Paulinenaue. Im selben Grab ruht auch Minnas kleine Tochter Elfriede. Die Geschichte des traurigen Doppeltodesfalles hat sich nicht nur auf dem Grabstein erhalten. Der Retzower Pfarrer Martin Koch, der in der Zeit des Ersten Weltkriegs für die Soldaten der heimatlichen Kirchspiele eine Zeitung herausgab, hielt darin fest, dass „ein recht schmerzlicher Todesfall aus Paulinenaue zu melden“ sei.
„Frau Minna Käding verstarb am 24.4., nachdem sie am 26.3. ihrer ersten Tochter das Leben geschenkt hatte. Der Ehemann Feldgendarm Paul Käding konnte noch zum Begräbnis herankommen, um der Taufe seines Kindes am Sarge seiner lieben, jungen Frau beizuwohnen. Die beiden Familien Boddin und Käding, denen der Krieg schon schmerzliche Trauer gebracht hat, [Pauls jüngerer Bruder Otto war ein Jahr zuvor in Frankreich gefallen, J.S.] sind schwer getroffen.“
Paul war also zur Beerdigung seiner Frau und zur Taufe seiner Tochter gekommen. Aber die kleine Elfriede überlebte ihre Mutter nur um Wochen. Auch ihren Tod vermerkte der Pfarrer nicht ohne Rührung: „Paul Käding hat nach seiner jungen Frau bald auch sein Töchterchen hergeben müssen. Dasselbe starb am 27.6. im Hause der Großeltern Boddin, die es neben seiner Mutter schmerzbewegt in die Erde senkten.“
Die Großeltern Gustav und Minna Boddin lebten nach diesen Widerfahrnissen noch 15 bzw. 25 Jahre. Ihre Grabstelle zählte bis vor kurzem zu den ältesten in Paulinenaue. Nur einige wenige Jahre und die Familie hätte nicht in zwei unterschiedlichen Dörfern ihre Ruhestätten finden müssen. Im Juli 1921 nämlich beantragten die Kirchenältesten die Einrichtung eines Begräbnisplatzes in Paulinenaue. Der Landrat übermittelte kurz darauf nach Potsdam, dass der Zustand, dass „die Leichen von Paulinenaue in der 7 km entfernt liegenden Gemeinde Selbelang beerdigt [werden, JS], auf Dauer unhaltbar [sei], sodaß die Anlage eines besonderen Begräbnisplatzes in Paulinenaue dringendes Bedürfnis ist.“
Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Antrag um eine reine Formalie. Denn als der Brief Ende August 1921 beantwortet wurde, war das erste Paulinenauer Grab schon belegt. Die älteren von Ihnen kennen vielleicht noch den Paulinenauer Lehrer Ernst Richter. Über ihn könnte man viel erzählen. Er hat in der Ortsgeschichte so einige Spuren hinterlassen. Dass seine Frau und er „ohne Geleit“ (also ganz alleine) ihr im Alter von gerade fünf Tagen verstorbenes Töchterchen Gisela am 19. August 1921 auf dem noch ganz leeren Paulinenauer Friedhof zu Grabe tragen mussten, berührt noch heute. Wie muss das vorgegangen sein? Nicht mehr als der Vermerk „Kindergräber Nr. 1“ steht dazu im Kirchenbuch.
Zwei Monate blieb die kleine Gisela allein hier liegen, bis der Torfgräber Emil Ebert im Oktober 1921 das „Erwachsenengrab Nr. 1“ erhielt. Er war von der Kleinbahn überfahren worden. In der Zwischenzeit war unter der Bedingung, dass eine kleine Leichenhalle errichtet werde, dem Antrag des Landrats stattgegeben worden und schon im Dezember 1921 war der Friedhof so weit hergestellt, dass er, wie der Landrat schreibt, „jetzt in Benutzung genommen werden kann. Die Umzäunung soll im Laufe des Winters erfolgen.“ Und weil auch auf dem Feld der Ewigkeit alles geregelt zugehen muss, schließt er seinen Brief an die Regierung in Potsdam mit den Worten: „Es wird sodann auch eine Begräbnisordnung eingereicht werden.“
Ein letzter Brief aus den Anfangstagen sei erwähnt. Pfarrer Koch als Vorsitzender des Gemeindekirchenrates setzte ihn am 1. Mai 1922 auf. Er berichtet darin vom vorläufigen Abschluss einer Angelegenheit, die sich zuletzt doch in trauter Einigkeit zwischen Bahn und Gutsverwaltung vollzogen hatte:
„Der Begräbnisplatz in Paulinenaue ist fertig hergerichtet. Umfangreiche Erdarbeiten waren nötig, um den Platz einzuebnen und einen etwa 300 m langen Zufahrtsweg zu schaffen und zu bepflanzen. Anerkennend möchte ich hervorheben, daß sämtliche Arbeiten an Hand- und Spanndiensten von den Einwohnern unentgeldlich und freiwillig geleistet sind. Besonders haben sich die Eisenbahnangestellten beteiligt. Der Oberbahnmeister hatte die technische Leitung. Die Pfosten der Umwehrung sind von der Gutsverwaltung geschenkt. Der Platz ist im Herbst vorigen Jahres in Benutzung genommen und bereits mit einigen Gräbern belegt.“
Ob allerdings der Plan umgesetzt wurde, den Koch abschließend nennt, ist aus den Akten leider nicht zu erfahren:„Wir sind dabei, die Überlassung eines alten Eisenbahnwagens zu beantragen und denselben so umzubauen, daß er vorläufig als Leichenhalle dienen kann.“ Was hätte wohl Curt von Knoblauch dazu gesagt, dass seine Paulinenauer einmal so stark mit der Eisenbahn verbunden sein würden? Das also war ein Einblick in die Anfänge des Paulinenauer Friedhofes. Sie sehen schon, wie viele Geschichten allein über diese erste Zeit erzählt werden können. Und es wird einem mulmig, wenn man an die vielen denkt, die seither ihre letzte Ruhestätte hier gefunden haben und noch finden werden. Etliche sind vergessen oder werden langsam vergessen. Die Geschichte vom Tod fast einer ganzen Paulinenauer Familie, die 1945 an einer Knollenblätterpilzvergiftung starb (die Stellmacherfamilie Hennig, darunter auch das kleine fünfjährige Peterle), kennen manche Ältere noch, meist aber nur aus Erzählungen und Verboten der eigenen Eltern. Ich habe von einigen Paulinenauerinnen gehört, denen das Pilzesammeln und -essen als direkte Folge dieser Geschichte von ihren Eltern strikt verboten worden war.
Dass fünf Jahre zuvor (1940) sich in Paulinenaue eine Tragödie abspielte, die viele Menschenleben kostete, wusste nicht einmal mehr Karl Weirauch, denn der war damals im Krieg. Und auch die Nazizeitung, die die Umsiedlung von Wolhyniendeutschen damals als „Heim-Ins-Reich“-Aktion verklärte, schwieg sich über die tragische Dimension dieses Ereignisses aus. Das Kirchenbuch listet insgesamt sieben in diesen Tagen auf dem Paulinenauer Friedhof bestattete Kinder auf, das älteste von ihnen war gerade drei Jahre alt. Pfarrer Pachali hielt damals fest:
„In der Nacht vom 12. zum 13. Februar trafen in Paulinenaue achthundert Wolhyniendeutsche ein, [Paulinenaue hatte zu dieser Zeit nur ca. 700 Einwohner, JS] die infolge des Umsiedelungsvertrages zwischen Deutschland und der russischen Sowjetunion ihre Wohnsitze verließen, um unter deutscher Herrschaft eine neue Heimat zu finden. Je 400 wurden in dem bisherigen Arbeits-Dienstlager Bienenfarm und Jahnberge (bei Mangelshorst) untergebracht, dabei herrschte bittere Kälte. Transportwagen der Wehrmacht besorgten die Beförderung vom Bahnhof Paulinenaue zu den beiden Lagern. In dem jetzt russischen Gebiet des ehemaligen Polens reisten diese Wolhyniendeutschen auf ihren eigenen Fahrzeugen, Leiterwagen und dergl., dann wurden sie mit der Bahn befördert. Den Anstrengungen und der Kälte – wir hatten fast fünf Wochen lang immer wieder minus 25 Grad –, die dort noch strenger war als hier, konnten diese Kinder nicht widerstehen. Sie bekamen alle Lungenentzündung, ein fünftes Kind ist im Krankenhaus Friesack verstorben. Die Väter dieser Kinder sind noch an der Grenze.“
Nein, es sind in der Regel keine lustigen Geschichten, die über den Friedhof erzählt werden können. Aber über eine Geschichte, die mir selbst hier einmal passiert ist, muss ich doch immer wieder lachen.
Ich interessiere mich ja schon seit Langem für die Paulinenauer Ortsgeschichte. Vor einigen Jahren hatte ich mir einmal in den Kopf gesetzt, alle Paulinenauer Grabsteine zu fotografieren. Es war Winter, ich war ganz allein auf dem Friedhof. Der Schnee war frisch gefallen und so stapfte ich von Grab zu Grab, bis ich endlich alle Grabsteine im Kasten hatte. Am Ausgang begegnete mir dann eine ältere Frau: „Na, Achim, hast du die Omi besucht?“. Was sollte ich sagen? Ich bejahte natürlich und sie glaubte mir. Wäre sie aber meinen Spuren im Schnee gefolgt, hätte sie bemerkt, dass ich an jedem Grab gestanden hatte, außer an dem meiner Oma, denn von ihrem Grab hatte ich schon genug Fotos.
Vielleicht geht es Ihnen auch so. Wenn ich heute über den Friedhof gehe, begegnet mir das Personal meiner ganzen Kindheit, man fühlt sich mit den Jahren mehr und mehr vertraut und mehr und mehr zu Hause hier. Der Friedhof ist nicht der schlechteste Ort in Paulinenaue, er ist vielleicht sogar einer der schönsten. Und damit es so bleibt, werden derzeit Gespräche über eine Verschönerung und Neukonzeption der Friedhofsgestaltung geführt, auf die man sich freuen kann.
Paulinenauer Ehrengräber
Fotos: Joachim Scholz, 2021
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