Als 1993 die beiden Altkreise Nauen und Rathenow zum Kreis Havelland zusammengelegt wurden, bestand über den Verwaltungssitz des neuen Landkreises Uneinigkeit. In einem heute online zugänglichen Dokument aus Parlamentskreisen ist sogar von einem „heftige[n] Streit“ zwischen Rathenow und Nauen die Rede: „Die Organe des Kreises Nauen verwenden sich nachdrücklich für die Stadt Nauen, die des Kreises Rathenow treten ebenso für die Stadt Rathenow ein. Eine Annäherung der Standpunkte war nicht einmal im Ansatz möglich.“ Mitten in dieser delikaten Situation rief vor ziemlich genau zwanzig Jahren eine Handvoll junger beherzter Paulinenauer die Initiative „Kreissitz Paulinenaue“ ins Leben. Sie sahen im Machtvakuum zwischen den beiden Havelland-Metropolen die historische Chance zu einem dritten Weg: Paulinenaue sollte Kreissitz des Havellandes werden!
Als einer der Initiatoren war ich damals mit von der Partie und als mir vor kurzer Zeit unserer damaliger Schriftverkehr zu Händen kam, rief das lebhafte Erinnerungen zurück. Vom 24. Februar 1993 datiert das Schreiben an den Landrat [PDF], in dem wir unsere Argumente ausbreiteten. „Wir haben festgestellt,“ heißt es darin, „daß weder Nauen noch Rathenow sich genügend als neue Kreisstadt eignen, da ein wichtiger Faktor bisher nicht berücksichtigt wurde – die zentrale Lage. Wir sind uns einig, daß Paulinenaue diese, wie wir meinen, äußerst wichtige Bedingung in besonderem Maße erfüllt.“ So selbstbewusst schrieben wir damals. Doch damit nicht genug. Paulinenaue hatte aus unserer Sicht noch einiges mehr in die Waagschale zu werfen: „Verkehrsnetz (Bahnhof, Straßen, Wasseranbindung, Flughafen bei Bienenfarm …), Wissenschaft (3 Institute) und Vereinswesen … blühen hier und bilden ideale Voraussetzungen“. Das Mehrzweckgebäude schlugen wir als künftigen Kreissitz vor. Mit einer Unterschriftenliste, einer Postkarte von Paulinenaue und der – man kann es heute sagen – leicht geschönten Kopie einer Landkarte, auf der wir Paulinenaue tatsächlich exakt in den Mittelpunkt des Havellandes positioniert hatten, ging das Schreiben an den Landrat. Jörg Hesse war, um der Aktion durch den guten Namen unseres Bürgermeisters zusätzliches Gewicht zu verleihen, Absender des Briefes.
Zwei Wochen später bekamen wir Antwort. Ein Herr Wowros, persönlicher Referent des Landrates Dr. Burkhard Schröder, hatte sich des Paulinenauer Anliegens angenommen und es – für uns ganz überraschend ausführlich – mit dem Sachverstand des Verwaltungsmannes beurteilt. Er lobte zunächst das bürgerliche Engagement und ging dann gleich zur Sache, indem er unbeeindruckt von der Suggestionskraft unseres Kartenmaterials befand: „Pessin liegt noch zentraler als Paulinenaue!“ Es verfüge ebenfalls über genügend Verwaltungsraum, über ein intaktes Vereinswesen und sei nicht wesentlich schlechter als Paulinenaue schienenmäßig angebunden. Allein dem Wissenschaftszentrum Paulinenaue konnten die Konkurrenten nicht das Wasser reichen. Doch folge man der Logik unserer Argumentation, so kämen am Ende dennoch Pessin und Selbelang mit leichtem Punktvorteil als Kreissitz in Frage. Jung, wie wir waren und beeindruckt von der prompten und sachkundigen Reaktion, streckten wir die Waffen.
Doch wer steckte hinter humorvollen und irgendwie verwaltungsuntypischen Antwortschreiben [PDF], das gar nicht lange nach der Wendezeit das Nauener Landratsamt verließ?
Zwanzig Jahre später bin ich dieser Frage nachgegangen und habe Michael Thomas Wowros im Nauener Landratsamt besucht, wo er im Bereich Wirtschaftsförderung nach wie vor mit der Entwicklung des Kreises befasst ist. Schnell merkt man, dass er als Experte über historische und künftige Aspekte des Feldes kompetent urteilen kann. Wir reden über die einstige Konkurrenz zwischen Nauen und Rathenow, über aktuelle Bevölkerungsbewegungen und natürlich über den Paulinenauer Vorstoß, damals die strittige Kreissitzfrage für sich zu entscheiden. Mittlerweile begrüßt auch Wowros, der als Falkenseer persönlich eher dem Altkreis Nauen verbunden war, die Entscheidung, dass 1993 Rathenow und nicht Nauen Kreisstadt des Havellandes geworden ist. Bei den dramatischen Verschiebungen von Einwohnerzahlen zu Ungunsten der Peripherie bedeutet es für Rathenows Entwicklung heute viel, Kreisstadt zu sein.
Und Paulinenaue? Hier ist laut Wowros nachträglich durchaus eine Chancenverbesserung eingetreten. Mit der Eingemeindung von Selbelang ist es dem Mittelpunkt des Landkreises noch näher gekommen. Denjenigen, die vielleicht die Hoffnung, dass Paulinenaue einmal Kreissitz wird, weiterhin in sich tragen, wird dies Ansporn und eine späte Genugtuung sein.
Herzlichen Dank an Heide Hesse und Michael Thomas Wowros.
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